BjörnsRollenspielphilosophie

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Version vom 16. Juli 2014, 21:12 Uhr von Rabe (Diskussion | Beiträge) (Am Ende dieser Ausführungen steht der Tod...)
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Ein Pen&Paper-Rollenspiel läßt sich auf sehr viele verschiedene Arten spielen. Jeder hat damit zwangsläufig eine andere Vorstellung, was ein Rollenspiel genau ausmacht und wie man es spielt, was das Zusammenstellen einer Gruppe untereinander kompatibler Spieler keine leichte Aufgabe macht.

Im folgenden versuche ich (Björn) zu beschreiben, wie ich persönlich Pen&Paper-Rollenspiele im allgemeinen und Midgard im besonderen spiele und (insbesondere) leite. Dies ist ein wildes Sammelsurium von ganz profanen organisatorischen Dingen über eher philosophische Überlegungen bis hin zu Plaudereien aus dem Nähkästchen. Um der daraus resultierenden Textmenge Herr zu werden, habe ich mich um eine klare Gliederung bemüht und die detaillierten Erklärungen zu einzelnen Thesen hinter Ausklappen-Links versteckt, so daß man sie nur bei Interesse zu sehen bekommt. Am Ende jedes Abschnitts steht eine Art Schlußfolgerung, die man auch ohne Ausklappen sehen kann.

Als Lohn der ganzen Mühe erhoffe ich mir, daß (potentielle) Mitspieler meine Herangehensweise verstehen und einschätzen können und so einen recht guten Eindruck von der Kompatibilität unserer Spielweisen bekommen.

Regelreiche vs. regelarme Rollenspielsysteme

Dieses und das folgende Kapitel mögen recht rollenspieltheoretisch daherkommen. Ich möchte sie aber nicht als rollenspieltheoretische Abhandlungen verstanden wissen (diesen Anspruch könnte ich gar nicht einlösen). Es geht mir primär um die Erklärung meiner persönlichen Motivationen und Herangehensweisen und nicht so sehr um allgemeine Anwendbarkeit.

Zwei verschiedene Spielkategorien.

Bei all den Arten, wie man ein Rollenspiel betreiben kann, habe ich durchaus unterschiedliche Vorlieben, die z.T. sogar miteinander im Widerspruch stehen, so daß sich nicht unbedingt alle Vorlieben im selben Spiel befriedigen lassen. Bei mir haben sich zwei Extreme herauskristallisiert: Auf der einen Seite ein sehr freies, regelarmes, im Extremfall faktisch regelloses Rollenspiel, auf der anderen ein regelreiches Rollenspiel mit umfangreichen und komplexen Regelwerk. (Man könnte es auch "regellastig" nennen, aber ich will ganz ausdrücklich die negative Wertung, die in diesem Begriff steckt, vermeiden.) In Zeiten, in denen ich bei mehreren Gruppen gleichzeitig mitgespielt habe, war es durchaus so, daß die eine regelarm und die andere regelreich spielte. Man könnte durchaus behaupten, daß ich dann eigentlich zwei verschiedene Spiele gespielt habe, die ganz unterschiedliche Interessen bedient haben und eher zufällig beide in die Kategorie "Rollenspiel" fielen.

Ein Rollenspielthoretiker wäre jetzt sicherlich versucht, meine persönlichen Erfahrungen mit dem GNS-System zu interpretieren. Man könnte sagen, daß ich in meinen regelarmen Runden dem Narrativismus gefrönt habe und daß die regelreichen Runden den Simulationismus als Priorität hatten. Interessanterweise kann ich mich auch für Gamismus begeistern, nur lebe ich diesen "Trieb" dann bei Brettspielen aus. Im Rollenspiel steht er bei mir im Hintergrund.

Regelreiches und regelarmes Rollenspiel sind in gewisser Hinsicht zwei unterschiedliche Spiele - und ich mag sie beide auf ihre Art und Weise.

Einen Mittelweg gibt es nicht.

Für mich ist es "wahre Kunst", wenn ein und dieselbe Sache es vermag, viele unterschiedliche Aspekte in sich zu vereinigen, unterschiedliche Herangehensweisen zu erlauben und unterschiedliche Bedürfnisse zu befriedigen. Von Natur aus tendiere ich zum "goldenen Mittelweg" und zu "guten" Kompromissen, von denen alle etwas haben. Das ideale Rollenspiel würde all die verschiedenen Erwartungen einer Gruppe von Spielern gleichermaßen bedienen. Leider ist dies meiner Erfahrung nach nicht möglich. Allein schon meine eigenen Erwartungen als einzelner Spieler kann ich nicht alle gleichzeitig erfüllen, von einer ganzen Gruppe unterschiedlicher Individuen ganz zu schweigen.

Reduziert man das Problem auf die eben beschriebenen Extreme regelreiches vs. regelarmes Rollenspiel, zeigt sich sehr schön, wie problematisch es ist, eine Art Mittelweg zwischen den beiden Extremen zu gehen. Es ist nur schwer möglich, "das Beste aus beiden Welten" im gleichen Spiel zu bekommen. Eher vereint man die Nachteile und Probleme beider Ansätze. Außerdem sehe ich eine "natürliche" Tendenz, sich dem einen oder anderen Extrem anzunähern, statt irgendwo in der Mitte zu verweilen. Es wird wohl kein regelreiches System geben, für das nicht in Internetforen, Fanzines, Zeitschriften, Quellenmaterial etc. immer noch viele weitere Zusatzregeln angeboten werden, um das ohnehin schon reichhaltige Regelwerk noch weiter zu verfeinern. Fängt man allerdings andersrum an, das Regeldickicht auszudünnen, ist es schwer, irgendwo aufzuhören. Im Gegenteil, nachdem man sich von einer Menge Regeln befreit hat, wirken die übrigbleibenden erst recht als unnötiger Ballast.

Dies paßt sehr gut zusammen mit der in der Rollenspieltheorie weit verbreiteten Ansicht, daß man nicht Gamismus, Narrativismus und Simulationismus gleichermaßen und zur gleichen Zeit bedienen kann. Sehr kompakt dargestellt findet sich die Problematik in einem klassischen Artikel von Ron Edwards aus dem Jahre 1999. Dieser Artikel und die darin beschriebenen Theorien sind übrigens erst kürzlich auf meinem Radar aufgetaucht. Meine eigenen Sichtweisen sind also im wesentlichen unabhängig davon entstanden - wobei gewisse Parallelen schon hochgradig faszinierend sind: Als junger und naiver Rollenspieler war ich durchaus ein glühender Anhänger der idealistischen Hypothese, daß mit den richtigen Spielern das System unwichtig sei. Die Zweifel kamen dann Ende der 90er und mündeten 2001 in meiner radikalen Eigenentwicklung Remiros (dazu später noch mehr).

Mit einem gewissen Widerwillen (aber im Einklang mit der Rollenspieltheorie) habe ich eingesehen, daß regelreiches und regelarmes Rollenspiel sehr unterschiedliche Bedürfnisse bedienen, die sich nicht alle gleichzeitig befriedigen lassen.

Warum Regeln? Warum keine Regeln?

Was also tun? "Gutes Rollenspiel" kann man sicherlich mit regelreichen wie mit regelarmen Systemen realisieren. Hier geht es nun darum, welche Ansprüche sich jeweils bedienen lassen und wo die spezifischen Stärken und Schwächen liegen.

Im Vorwort unserer Midgard-Hausregeln habe ich schon vor längerer Zeit ein paar warme Worte über den Sinn und Zweck von Regeln verloren:

Regeln sind Nebensache im Rollenspiel. In welcher Hinsicht haben Regeln überhaupt eine Berechtigung? Ein Rollenspiel ist nicht realistisch. Manchmal erweckt es den Anschein, realistisch zu sein, aber wenn man nur hinreichend genau hinschaut, ist man immer beliebig weit von der Realität (was auch immer das sein mag) entfernt. Ein Rollenspiel hat seine eigene Realität. Die Regeln dienen dazu, dem daran interessierten Spieler ein Gefühl zu geben, welchen Gesetzen diese spezielle Realität folgt. Sie dient auch dem Spielleiter, einschätzen zu können, was die Spieler für eine Erwartung von dieser Realität haben, um also zu vermeiden, daß bei den Spielern der Eindruck von Willkür oder Ungerechtigkeit entsteht. Schlußendlich sorgen die Regeln dafür, daß die Spielwelt sich (in gewissen Grenzen) "selber spielt" - das Rollenspiel erhält in Teilen den Charakter einer Simulation, vergleichbar einem simulationsbetonten Brett- oder Computerspiel. Von all dem unbeschadet bleibt die "goldene" Regel, daß der Spielleiter immer recht hat und erhaben über jede Regel ist (was selbstverständlich nur behutsam Anwendung finden sollte, da andernfalls der Zweck der Regeln ad absurdum geführt würde).

Andersrum kann man viel über meine Philosophie des regelarmen Rollenspiels erfahren, indem man sich die bereits erwähnten Remiros-"Regeln" durchliest. Nicht ohne Grund wird darin der gleiche Salm aus den Midgard-Hausregeln zitiert wie oben.

Überspitzt gesagt empfinde ich Regeln an sich als Ballast und bestenfalls Mittel zum Zweck, wobei obendrein der allerheiligste Zweck, nämlich das Rollenspiel im eigentlichen Sinne, die Regeln gar nicht braucht. Die Regeln sind also gewissermaßen ein Preis, den ich bereit bin zu zahlen, um das zu bekommen, was ich oben beschrieben habe. Der Simulationsaspekt gefällt mir vielleicht auch deshalb so sehr, weil ich mich neben dem Rollenspiel eben auch sehr für (simulationsorientierte) Brettspiele begeistere.

Das alles kann man nun noch wunderbar durch die Mühle der Rollenspieltheorie drehen. Da wird man dann sehen, wie viele Seelen, ach, in meiner Brust wohnen. Ziemlich klar ist für mich die Ur-Motivation des Rollenspiels der Narrativismus, während ich kaum ein begeisterter Brettspieler sein könnte ohne die Tendenz zum Gamismus. Im Simulationismus treffen sich beide Interessen. Sowohl Brettspiele wie auch Rollenspiele bekommen für mich einen ganz besonderen Kick, wenn der Simulationsaspekt ins Spiel kommt. Nun lassen sich, wie wir gelernt haben, nicht alle Aspekte reibungslos verheiraten, so sehr mir das zupasse käme. Interessanterweise kann man in meine Präambel zu den Hausregeln durchaus den Versuch hineinlesen, mit Hilfe der Regeln Gamismus und Simulationismus miteinander in Einklang zu bringen. Den Narrativismus da noch gleichberechtigt unterzubringen muß aber scheitern. So habe ich also selber mit Remiros ein radikal narrativistisches (Nicht-)System entworfen, das obendrein im wesentlichen Drama-basierte Situationsauflösung benutzt (mit leichtem Karma-Einfluß), während ich mich ebenso an einem stark simulationistischen und Fortune-basiertem System wie Midgard erfreue. Extremer können die Gegensätze kaum sein, und die wichtige Schlußfolgerung lautet, daß man sich klar entscheiden muß, welcher Seite man in einer Kampagne Priorität einräumen will. Sonst hat man nichts Halbes und nichts Ganzes. Davon wird im folgenden noch häufiger die Rede sein.

Es gilt, Prioritäten zu setzen und sich für eine Kampagne grundsätzlich zwischen regelreichem und regelarmen Rollenspiel zu entscheiden.


Ich bin (k)ein Regelfetischist.

Wenn man mit mir ein regelreiches Rollenspiel spielt, wird man leicht den Eindruck bekommen, ich sei ein Regelfetischist. Was ich oben geschrieben habe, ist nebenbei auch ein Versuch, diesen Eindruck durch ein differenzierteres Bild zu ersetzen. Gerade weil ich Regeln eben nicht als Selbstzweck sehe, ist es mir so wichtig, das, was einem die Regeln geben, zu bewahren. Ein allzu lässiger Umgang mit den Regeln zerstört dies alles. Das Spiel funktioniert nicht mehr als Simulation (sondern setzt nur noch den Willen des Spielleiters um) und das Gefühl für die oben beschriebene (Pseudo-)Realität kann sich nicht mehr einstellen. Das Schlimme daran: Selbst bei lässigen Umgang mit den Regeln spielt man ja immer noch ein regelreiches System, man trägt also immer noch am Regelballast (wenn auch in abgeschwächter Form), bekommt aber nichts mehr dafür.

In einer Konstellation, in der die Gruppe den Simulationsaspekt nicht zu schätzen weiß und der Spielleiter lieber die volle Kontrolle haben soll, würde ich eher zu einem regelarmen System wie Remiros greifen.

Die Wahl eines regelreichen Systems ist sozusagen in sich schon ein Bekenntnis zum Simulationsaspekt, den man dann auch nicht leichtfertig über Bord werfen sollte.

Illustrieren wir das ganze mit dem Beispiel einer klassischen Wirtshausschlägerei (und einem bißchen Terminologie aus der Rollenspieltheorie): Die Spielercharaktere haben das Gasthaus ausfindig machen können, in dem der Agent der feindlichen Macht mitsamt der zu beschaffenden Geheimdokumente abgestiegen ist. Dummerweise ist, überrasched für die Spieler, dasselbe Gasthaus aber auch die Stammkneipe der Hafenschlägerbande, mit denen die Gruppe es sich im letzten Abenteuer tüchtig verdorben hat. Der Barde spielt gerade zur Ablenkung zum Tanz auf, damit der Spitzbube sich unbemerkt dem Agenten bzw. seinem Gepäck nähern kann, als die Hafenschläger den Barden erkennen und sich auf ihn stürzen. Die Glücksritterin will sich elegant am Kronleuchter über den Tumult hinwegschwingen, um ihrem Gefährten zu Hilfe zu kommen, während der Magier überlegt, welcher seine Sprüche nun den günstigsten Effekt hätte...

Von einer dramatisch-narrativistischen Perspektive will man diese Situation nun möglichst flüssig abhandeln, gewissermaßen wie eine schnelle Actionsequenz in einem Film. Gamisten will man aber möglichst viele Gelegenheiten geben, nun "an den Knöppen zu drehen", während die Simulationisten am liebsten die ganze Sache sekundengenau in allen Einzelheiten nachvollziehen, womit die Szene dann eher wie in Zeitlupe abläuft. Wenn die Gruppe weiß, was sie will, dann spielt sie hoffentlich mit dem passenden System. Um bei Midgard vs. Remiros zu bleiben: Steht man auf Narrativismus, dass ist Remiros die passende Wahl. Man braucht sich nicht zu grämen, daß der Spielleiter "der Dramatik halber" improvisiert oder nach Gutdünken entscheidet statt "fair" gegen irgendwelche Werte zu würfeln (denn so läuft es bei Remiros ja ohnehin immer). Mit Midgard hätte man jetzt nur alle Nachteile vereint: Die ganze Zeit liest man sich durch die dicken Regelwälzer, nur um jetzt, wo sozusagen der Ernstfall einsetzt und die Regeln ihre Fähigkeit zur Simulation unter Beweis stellen sollen, alles über Bord zu werfen, weil die Handlung "zu zäh" wäre. Will man hingegen eine möglichst genaue Simulation (oder auch die Möglichkeit, "gamistisch" den Ausgang des Geschehens günstig zu beeinflussen), dann kommen einem die umfangreichen Midgard-Regeln gerade recht. Dann nehme man die Sache aber bitte auch ernst. Ich bin dann auch sehr dafür, bei spontan auftretenden Regelunklarheiten sich gleich die Zeit für eine Klärung zu nehmen. Mogelt man sich hingegen durch Unklarheiten durch, dann hat man für den Moment wieder die Nachteile, trotz reichhaltigem Regelwerks zu improvisieren, und wenn man nicht die Disziplin aufbringt, die Unklarheiten in der Nachlese zu beseitigen, dann steht man in der nächsten ähnlichen Situation wieder vor dem gleichen Problem.

Es wird ziemlich klar, was für Probleme man hat, wenn das System nicht zum Spielstil paßt oder, vielleicht noch schlimmer, die Gruppenmitglieder untereinander nicht einig sind, ob sie nun primär Simulation oder Dramatik wollen.

Die Gruppe sollte sich im Klaren sein, welchen Stil sie bevorzugt, und ein dazu passendes System wählen. Fällt die Wahl auf ein regelreiches System, dann sollte diese Entscheidung und damit die Regeln ernstgenommen werden, auch wenn Regeln nur Mittel zum Zweck sind. Anderenfalls drohen sie nämlich, ihren Zweck nicht mehr zu erfüllen.

Die Bedeutung von Ausgewogenheit und Eingeschränktheit.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ein Fantasy-Rollenspielsystem sich klassischerweise mehr oder weniger stark um Ausgewogenheit der Charaktere bemüht, während die klassische Fantasyliteratur geradezu strotzt von Protagonisten extrem unterschiedlicher Mächtigkeit - wobei nicht selten dann gerade der Kleinste und Unbedeutendste der Handlung die entscheidende Wende gibt.

Die Handlung des Herrn der Ringe mit einem simulationistischen Rollenspielsystem nachzuspielen, würde sich einerseits als sehr schwierig erweisen (weil das System natürlich "realistische" Ergebnisse hervorbringen würde und damit nicht ständig die "Guten" auf dramatisch-unwahrscheinliche Art und Weise davonkämen), andererseits aber wohl auch als sehr öde für die Spieler "minderbemittelter" Charaktere wie der Hobbits, die neben effektiven Halbgöttern wie Gandalf am Spiel teilnehmen würden. Die Gamisten würden eh sofort verlangen, daß die Adler den Ring zum Schicksalsberg bringen sollen...

Natürlich könnte man an der Sache ein wenig herumdoktoren und Regeln erschaffen, die irgendwie den "allmächtigen" Charakteren Einschränkungen auferlegen und andererseits den dramatischen Aspekt modellieren, daß gerade die vermeintlich Schwachen die entscheidenden Taten vollbringen bzw. scheinbar unbedeutende Fähigkeiten sich am Ende als entscheidend erweisen. Dies wäre aber eine Art reverse engineering, bei dem man ein Rollenspielsystem so gestaltet, daß am Ende Simulation bzw. Gamismus genau das ergeben, was man sich als Ausgangspunkt narrativistisch gewünscht hatte.

Meine Wortwahl läßt es schon vermuten: Mit einem Schwerpunkt beim Narrativismus läßt sich viel besser mit Unausgewogenheit zwischen den Protagonisten umgehen. Beim dramatisch-narrativistischen Remiros können die Spieler ihre Charaktere weitgehend frei gestalten. Die Einsicht, daß die Spieler durch selbstauferlegte Einschränkungen den Spielspaß erhöhen, wird vorausgesetzt. Überhaupt fällt es meiner Erfahrung nach in regelarmen Drama-orientierten Systemen viel leichter, seinem Charakter "nur gespielte" Einschränkungen aufzuerlegen als in einem Fortune-basierten System, wo man ständig so damit beschäftig ist, dem Würfel endlich mal einen Erfolg abzuringen, daß man nicht auch noch "mutwillig" seine Erfolgschancen mindern will. Und selbst wenn die Spieler wahre Meister ihrer Zunft spielen wollen, so kann der Spielleiter bei einem System wie Remiros relativ einfach die Welt für sie glaubwürdig so gestalten, daß es doch noch Herausforderungen gibt. Ein regelreiches simulationsorientiertes System kann man hingegen gewissermaßen wie ein Computerspiel durch "Spoilerstrategien" zum Absturz bringen. Natürlich hat im Pen&Paper-Rollenspiel der Spielleiter, im Gegensatz zu einem Computerprogramm, die Gelegenheit zum Eingreifen, aber dies geschieht durch Änderung oder Außerkraftsetzen von Regeln. Die Simulation heilt sich also nicht selbst, sondern man muß aus ihr heraustreten und sie von außen reparieren.

Wenn ich nun aber ein regelreiches simulationsorientiertes System wie Midgard spiele, dann nehme ich die Sache mit der Ausgewogenheit und der Eingeschränktheit der Charaktere sehr ernst. Vielleicht schlägt hier auch mein Brettspieler-Gamismus durch, der für "Fairness" sorgen will. Interessanterweise stört es mich bei Midgard recht wenig, wenn Spielercharaktere sehr unterschiedlicher Grade in derselben Gruppe spielen, solange es eine gute Mischung an Charakterklassen gibt. Einerseits sind selbst hochgradige Midgard-Charaktere im Vergleich zu ihren Kollegen in klassischen levelbasierten Systemen noch recht weit von der Allmacht entfernt. Andererseits gibt es meist doch die eine oder andere Fähigkeit bei einem frischgebackenen Charakter, die die hochgradigen Gefährten nicht so recht beherrschen.

Nichtsdestotrotz ist gewissermaßen das Regelsystem erstmal das Gesetz, selbst und gerade als Spielleiter. Wenn ich mich zu häufig in der Situation wiederfinde, daß die Regeln meiner Kreativität im Weg sind, dann benutze ich entweder das falsche System oder sollte vielleicht gar "zum Abreagieren" eine Zeit lang ein regelarmes System spielen. Als Spieler versuche ich, meinen Charakter möglichst innerhalb des gegebenen Rahmens zu entwickeln, und habe sogar Spaß daran, so die Möglichkeiten des Systems zu erforschen. Als problematisch sehe ich es, wenn ich ständig versucht bin, für die Umsetzung meiner Ideen neue Rassen, Charakterklassen, Fähigkeiten oder Zaubersprüche zu entwickeln oder beim Spielleiter bestimmte Artefakte oder Sonderregeln zu "bestellen". Auch dann hieße es: Besser ein anderes, womöglich regelärmeres System benutzen, daß meinen Vorstellung besser entspricht bzw. meiner Kreativität mehr freien Raum läßt.

Ein funktionierendes regelreiches Rollenspielsystem muß (gamistisch) ausgeglichen und (simulationistisch) "stabil" sein. Ist es das nicht, bedarf es einer Reparatur oder - im Extremfall - eines Systemwechsels. Optimistisch gehe ich erstmal davon aus, daß das von mir gerade gespielte System diese Voraussetzung erfüllt (sonst würde ich es wohl auch nicht spielen...). Damit sind aber die im vorigen Abschnitt erwähnten Sonderregeln verschiedener Art per se eine Gefahr, diese Voraussetzung zu zerstören. Was in einem regelarmen System unkritisch ist, kann in einem regelreichen System mit seinem (simulationistischen) Eigenleben und seinem höheren Anspruch an (gamistische) Ausgewogenheit leicht problematisch werden. Anders gesagt: Sonderregeln sind echt arbeitsintensiv. Wenn ich viele davon brauche, bin ich wieder an dem Punkt, alle Nachteile vereinigt zu haben und die Vorteile nicht mehr nutzen zu können.

Insbesondere in einem regelreichen System mit Schwerpunkt auf Simulationismus und/oder Gamismus sind Ausgewogenheit und Eingeschränktheit der Spielercharaktere wichtig. Sonderregeln stehe ich in einem solchen System kritisch gegenüber.

Regelreiches Rollenspiel im Computerzeitalter.

Manchmal mag man meinen, das Zeitalter der Pen&Paper-Rollenspiele sei vorbei. Die Glockenkurve der Altersverteilung der Spieler ist irgendwo in den Vierziegern zentriert. Alteingesessene sterben weg (nicht unbedingt biologisch, sondern auch einfach, weil sie andere Dinge zu tun haben, wie z.B. Kinder großziehen), während nur wenig junger Nachwuchs vorhanden ist.

Geradezu zum Massenmarkt haben sich hingegen Online-Rollenspiele entwickelt. Anfänglich hat der "wahre" Rollenspieler Computerrollenspiele wegen ihrer Unflexibilität und eingeschränkten Möglichkeiten noch belächelt, aber die Entwicklung ist nicht stehengeblieben. Die weltweite Vernetzung und das dadurch ermöglichte Zusammenspiel mit vielen menschlichen Mitspielern hat dann den entscheidenden Kick gegeben.

Die Auffassung, daß Pen&Paper-Rollenspiele schlicht und einfach durch Online-Rollenspiele ersetzt werden, greift aber zu kurz. Gerade durch die vermeintlichen Sargnägel PC und Internet ist nämlich eine sehr lebendige, innovative und vielfältige Pen&Paper-Rollenspiel-Szene entstanden. Dank der modernen Technik braucht man keinen Verlag mehr, um ein neues System zu veröffentlichen, und die Autoren können problemlos ihre Erfahrungen weltweit austauschen. Soll es dann doch mal professioneller werden, gibt es die Möglichkeit des crowd funding.

Obwohl also ironischerweise Herstellung und Vertrieb eines Pen&Paper-Rollenspiels heutzutage kommerziell gesehen kaum noch attraktiv ist, kann man unter einer Unzahl z.T. hochspezialisierter Systeme wählen, deren Autoren auf die gesammelte Weisheit der letzten Jahrzehnte zugreifen konnten. Allerdings vermeine ich einen klaren Trend wahrzunehmen: Viele moderne Systeme zeigen eine Tendenz zu einfacheren Regeln und bringen als Mehrwert innovative Konzepte mit, die dem Rollenspiel eine ganz neue Dimension geben. Ich kann das sehr gut verstehen. Bei einem komplexen Pen&Paper-Rollenspiel fragt man sich heutzutage zu recht, ob man für ein dearart komplexes Regelwerk nicht besser einen Computer bemühen sollte, der ja heutzutage in jedem Haushalt auf dem Schreibtisch steht. Bei komplexen Brettspielen ist eine ganz ähnliche Tendenz zu bemerken. Manche Klassiker aus den 70er und 80er Jahren würde mon heute als Fehldesign ansehen, weil sie sich wie ein Computerspiel anfühlen (was man dann auch als Computerspiel implementieren sollte). Früher waren Computer exotische Artefakte. Wenn man ein "Computerspiel" spielen wollte, mußte man es als klassisches Brettspiel realisieren, wo die Spieler eben eine Menge Buchführung zu tun bekamen. Heute hingegen konzentrieren sich Brettspieldesigner auf die Aspekte, die mit einem Computer nicht besser abzubilden sind. Und siehe da, dar Markt boomt...

Um aufs Rollenspiel zurückzukommen: Konsequenterweise müßte man also sagen, man spielt Rollenspiele mit Simulationscharakter besser gleich auf dem Computer, und für das Pen&Paper-Rollenspiel konzentriert man sich auf regelarme Systeme, bei denen Aspekte im Vordergrund stehen, die am Computer eher schwierig umzusetzen sind. Für die regelreichen Pen&Paper-Systeme ist eigentlich kein Platz mehr.

Warum also noch regelreiches Pen&Paper-Rollenspiel?

Für mich (und manch andere Mittvierziger) ist das zum einen sicherlich ganz schlicht ein nostalgischer Tick. Zum anderen empfinde ich, vielleicht gerade als jemand, der beruflich ständig mit Computern zu tun hat, eine seltsame Befriedigung darin, komplexe Vorgänge auch mal ohne Computer zu meistern.

Was ich mir gut vorstellen könnte: Im Zeitalter von Kleinstcomputern wie Tablets und Smartphones könnte man die Computerunterstützung gewissermaßen unsichtbar ins Pen&Paper-Rollenspiel einführen. Man würde nach wie vor am Tisch spielen, mit denselben Regeln. Pen und paper würde man aber durch Tablets oder Smartphones ersetzen, die die "Buchführung" übernehmen würden (Charakterverwaltung, Ausrüstungslisten, Lebenspunkte zählen, ...). Sie könnten sogar bei gewissen regeltechnischen Angelegenheiten wie Kämpfen den Spielern und vor allem dem Spielleiter unter die Arme greifen. Geheime Nachrichten des Spielleiters an einzelne Spieler ließen sich diskreter abhandeln, und der Spielleiter braucht nicht mehr nach dem aktuellen Wert für Fallen entdecken zu fragen, um den "geheimen" Wurf abzuhandeln... Man würde also das Rollenspiel nicht komplett in den Computer verlagern, sondern der Computer würde lediglich als besonders intelligente pen und paper dienen. Ansätze hierzu gibt es schon (auch bei Brettspielen, übrigens). Vielleicht werde ich mich damit mal näher beschäftigen...

Nostalgie und Trotz gehören zu den Gründen, warum man im Computerzeitalter überhaupt noch regelreiches Pen&Paper-Rollenspiel spielt. Daß regelarme Systeme mit innovativen Konzepten, die am Computer schwer umsetzbare Aspekte in den Mittelpunkt rücken, auf dem Vormarsch sind, ist nur allzu gut nachvollziehbar.

Warum gerade Midgard?

Also mal angenommen, man hat sich all die oben diskutierten Aspekte genau vor Augen geführt und will nun (dennoch?) mit voller Inbrunst und der nötigen Konsequenz ein regelreiches Rollenspiel spielen. Einem stehen da zahlreiche Systeme zur Auswahl. Warum sollte die Wahl gerade auf Midgard fallen?

Praktisch gesehen ist Midgard mein bevorzugtes regelreiches Rollenspielsystem, aber ich bin wahrlich kein Fanboy...

Migdards historische Verdienste.

Wenn man die Frühzeit des Rollenspiels betrachtet, kann man meiner Meinung nach Midgard gar nicht hoch genug loben. Schon damals war Midgard nicht der Massenerfolg, was vielleicht daran lag, daß es so trocken und generisch daherkam (dazu noch später). Gerade diese systematische Herangehensweise (es mag diesbezüglich nicht überraschen, daß Jürgen E. Franke im realen Leben Mathematiker ist) hat Midgard aber vor vielen Fallen bewahrt, in die manch andere Systeme getappt sind. Der Kern des Regelsystems war schon mit der 2. Auflage von 1985 so robust, daß seitdem keine fundamentalen Änderungen mehr nötig waren. Heimlich, still und leise war Midgard ziemlich innovativ. Die Trennung von AP und LP wahr wohl wirklich Weltneuheit. Midgard hat aber auch viele andere fortschrittliche Merkmale integriert, für die andere Systeme lange und lautstark gepriesen wurden, wie Levelfreiheit (Midgards Grade funktionieren ganz anders als die D&D-Level oder die DSA-Stufen - es ist eher ein Maß der Figurenentwicklung als ihre Triebkraft), learning by doing (parallel zu einem Lernsystem über Erfahrungspunkte) und etwas, das ich mal "weak typing" nennen will (es gibt zwar Charakterklassen, aber es bestehen gewisse Freiheiten, auch "klassenfremde" Fähigkeiten zu erlernen, wodurch die Vorteile eines klassenbasierten Systems nicht verlorengehen, sehr wohl aber dessen Nachteile abgemildert werden). Bei Midgard war unterm Strich sicherlich alles immer ein bißchen komplizierter, aber nach meiner Devise "wenn schon Regeln, dann bitte richtig" ist das ja nicht unbedingt ein Nachteil.

Man verzeihe mir diese Geek-Referenz, aber ich sage gerne:

Midgard ist unter den Rollenspielsystemen, was Unix unter den Betriebssystemen ist. Es war nie hübsch, es war nie sexy, aber es war von Anfang an dabei, hat damals schon irgendwie alles gekonnt und alles richtig gemacht und existiert bis heute, zwar in weiterentwickelter Form, aber im Kern immer noch unverkennbar.

Midgards Probleme.

In der heutigen Zeit, ein halbes Menschenleben später, haben derartige Schwärmereien von alten Zeiten allerdings eher historischen Wert. Das Hobby hat sich rasant weiterentwickelt.

Auch wenn der Schwerpunkt der Innovation, wie oben skizziert, eher im Bereich regelarmer Systeme liegt, so bin ich mir ziemlich sicher, daß es unter den modernen Rollenspielsystemen auch jede Menge gibt, die einen regelreichen Ansatz vergleichbar zu Midgard verfolgen. Und würde ich mir die alle mal etwas genauer angucken, würde ich sicherlich bald eines finden, das mir besser gefällt als Midgard. Nicht zuletzt habe ich, gerade aus der Sicht eines modernen Brettspielautoren, mit Midgard so einige Hühnchen zu rupfen. Da geht es z.T. um sehr grundsätzliche, manchmal geradezu triviale Dinge wie z.B. Struktur und Formulierung des Regeltextes oder Designentscheidungen, die einen relativ kleinen spielerischen Mehrwehrt mit einem relativ großen Zuwachs an Regelkomplexität erkaufen.

Kleiner Exkurs zum letzten Punkt: Sehr schön läßt sich der mit dem Problem von Prüfwurf (PW) und Erfogswurf (EW) illustrieren. Fast alles bei Midgard wird mit einem sehr eingängigen W20-System abgehandelt. Hohe Werte sind gute Werte, und mit diesen Werten würfelt man einen EW, und auch hier sind hohe Würfelergebnisse besser (und positive Würfelmodifikationen (WM) somit gut). Das einfache aber geniale Konzept des Widerstandswurfs (WW) fügt sich hier nahtlos ein. Aus (vermutlich historischen, aber ansonsten) völlig rätselhaften Gründen werden einige wenige Dinge wie z.B. Basiseigenschaften mit einem W100-System abgebildet. Es geht hier aber nicht nur um eine feinere Abstufung (die nebenbei fast nie wirklich entscheidend ist), sondern auf einmal würfelt man mit diesen Werten (die immer noch besser sind, wenn sie höher sind) einen PW statt eines EW, bei dem niedrige Ergebnisse nun besser (und damit negative WM gut) sind. Man stelle sich dieses System in einem modernen Brettspiel vor. Jeder Editor würde das sofort glattziehen. "Völlig verwirrend. Teilt doch bitte die Basiseigenschaften durch 5 und benutzt dann dort auch W20 und EW. Dann brauchen wir auch keinen W100 mehr in die Packung zu legen..."

Auch wenn man mal als gegeben hinnimmt, daß man ein "antiquiertes" regelreiches System haben will, gibt es bei Midgard etliche Aspekte, die man aus einer modernen Perspektive eleganter lösen würde.


Und warum dann dennoch Midgard?

Damit steht nun die Frage im Raum: Warum suche ich mir kein besseres System aus dem reichhaltigen Angebot? Warum spiele ich immer noch Midgard?

Da ist zum einen das Problem der "Anfangsinvestition". Midgard spiele ich 1987. Ich bin also ziemlich "drin" im System. Bei einem neuen System müßte ich diese Vertrautheit erstmal erreichen. Mit einem besseren Design würde dies vielleicht viel schneller gelingen als damals bei Midgard. Nichtsdestotrotz ist es ein zusätzlicher Aufwand, der sich erstmal auszahlen müßte.

Zum anderen sind viele der Schrulligkeiten Midgards ziemlich unproblematisch, wenn man die Kröte erstmal geschluckt hat. Um beim obigen einfachen Beispiel mit EW und PW zu bleiben: So unelegant und wenig eingängig das ist, hat man es erstmal verinnerlicht, stört es den Spielablauf nicht weiter. Ein Gegenbeispiel wäre die "dreiwürfelige" Talentprobe bei DSA. Die ist jedesmal wieder unelegant, wenn man sie durchführen muß.

Für verbleibende Regelunklarheiten und "Warzen" haben wir unsere Hausregeln entwickelt, womit insgesamt kaum noch Leidensdruck besteht.

Mit mir als Spielleiter sind diese Hausregeln als vollwertiger Bestandteil des Regelwerks zu betrachten.

Mit unseren über lange Jahre optimierten Hausregeln und wohl auch dadurch, daß wir selbst die schrulligsten Regeln über lange Jahre verinnerlicht haben, ist Midgard durchaus spielbar. Ein neues System müßte schon sehr weitreichende Vorteile aufbieten, um den mit einem Systemwechsel verbundenen Aufwand zu rechtfertigen.

Autorität des Spielleiters und Spiel(er)disziplin

Im Holodeck und Spaß dabei.

Jede Rollenspielgruppe wünscht sich, daß man "anständig" spielt, hauptsächlich in-character redet und agiert und die out-of-character-Diskussionen auf ein Mindestmaß beschränkt. Die besten Momente erlebt man schließlich, wenn alle Beteiligten komplett "drin" sind im mentalen Holodeck. Aber irgendwie klappt das nur selten, außer man führt ein so strenges Regime ein, daß es einem leicht als Spaßkiller auf die Füße fällt. Häufig habe ich in meinen Gruppen auch noch das Problem, daß die Spieler alte Freunde sind, für die dann aber alltagsstreßbedingt die Rollenspielsitzung bisweilen die einzige Gelegenheit ist, sich mal wiederzusehen. Dann gibt es natürlich jede Menge Realweltgesprächsbedarf, der nun gar nichts mit dem Spiel zu tun hat, dies aber häufig durchkreuzt. In solchen Fällen versuche ich, die Bedürfnisse zu kanalisieren, indem es erstmal eine ausgiebige Smalltalk-Session gibt, ganz ohne Spiel, und dann ganz bewußt eine gewisse Zeit (eine Stunde oder so) hochkonzentriert gespielt wird, bevor es wieder Zeit für Smalltalk gibt.

Generell erwarte ich von allen Spielern die Bereitschaft zum konzentrierten in-character-Spiel, verbunden mit einen gewissen Grundernst. Rollenspiel kann unglaublich witzig sein, aber der Witz nutzt sich doch arg ab, wenn er in zu hoher Dosis daherkommt, und wirkt dann obendrein als Stimmungskiller für jede nicht witzige Situation.

Out-of-character-Diskussionen.

Out-of-character-Diskussionen, vor allem solche mit dem Spielleiter, sind ebenfalls ein sehr effektiver Stimmungskiller, was ja letztendlich die Hauptmotivation ist für die "Der Spielleiter hat immer recht!"-Regel. Unter gewissen Umständen finde ich aber solche Diskussionen sinnvoll. Zum einen ist das die Ausräumung offensichtlicher Mißverständnisse; die Spieler sind also nicht zur folgsamen Akzeptanz einer Spielleiterentscheidung verdammt, wenn diese offensichtlich darauf beruht, daß eine Information, die die Spieler gegeben haben, beim Spielleiter nicht angekommen ist (oder umgekehrt). Zum anderen sind das Regelunklarheiten, die auch der Spielleiter als solche empfindet (was ein Problem ist, das im wesentlichen regelreiche Systeme betrifft). Natürlich ist eine Diskussion auch in dieser Situation extrem störend, aber es ist gewissermaßen eine Investition in die Zukunft, wenn man am konkreten Beispiel die Regelunklarheit nachhaltig und zur allseitigen Zufriedenheit beseitigt. Beim nächsten Eintreten einer ähnlichen Situation spielt es sich dann umso flüssiger.

Out-of-character-Diskussionen sind immer störend, aber können zur Vermeidung von Mißverständnissen oder zur Regelklärung unterm Strich dennoch sinnvoll sein.

Quellenmaterial

Selbsterdachtes vs. vorgefertigtes Quellenmaterial.

Wahrscheinlich bin ich als Spielleiter nicht allein, wenn ich bekenne, am liebsten mit selbsterdachtem Quellenmaterial zu spielen. Als Weltenbauer stehen einem alle Möglichkeiten offen. Aber das ist nicht die einzige Befriedigung. Spiele ich in meiner eigenen Welt, kenne ich mich bestens aus und kann jederzeit konsistent improvisieren, wenn es mal eine Lücke zu füllen gibt oder ich auf Ideen der Spieler eingehen will. Bei Fremdmaterial besteht die Gefahr, daß Improvisation zu Inkonsistenzen mit Teilen der Welt führt, die mir noch nicht bekannt sind. Daß ich dann doch häufiger auf vorgefertigtes Material zurückgreife, liegt - so bilde ich es mir zumindest ein - nicht daran, daß ich nicht kreativ genug wäre, sondern schlicht am Zeitmangel.

So ist also vorgefertigtes Quellenmaterial zunächst einmal ein Mittel zur Zeitersparnis. Natürlich soll es auch einen gewissen Mindestqualitätsstandard erfüllen, aber im Idealfall ist es sogar so gut, daß es einem gar nicht mehr leid tut, daß man fremdes Quellenmaterial benutzen "muß". Man kann Fremdmaterial genießen wie ein Schriftsteller einen guten Roman eines Kollegen.

Ähnliches gilt natürlich auch für Szenarien und Kampagnen, doch dazu später. Jetzt soll es erstmal darum gehen, wie ich mit Quellenmaterial umzugehen pflege, mit besonderem Schwerpunkt bei Midgard.

Quellenmaterial selbst zu erstellen hat viele Vorteile, kostet aber Zeit und Mühe. Gutes vorgefertigtes Quellenmaterial ist ein akzeptabler Ersatz und wird von mir in der Praxis häufig verwendet.

Midgard und seine Welt.

Ursprünglich war Midgard im Ansatz ein "weltneutrales" Rollenspielsystem. Die wenigen Seiten, die sich im Regelwerk über die Welt Magira bzw. später über die Welt Midgard fanden, kamen eher als Inspiration oder Beispiel für Weltenbau daher. Die meisten Midgärdner alter Schule haben wohl auf ihrer eigenen Welt gespielt oder ihre Lieblingswelt aus einem anderen System oder aus der einschlägigen Fantasyliteratur adaptiert.

Über die Jahre wurde eine ganze Menge offizielles Quellenmaterial für Midgard veröffentlicht, angesiedelt in der Midgard-eigenen Welt (die ebenfalls den Namen Midgard trägt). Die inhaltliche Qualität dieses Materials empfinde ich als insgesamt recht gut. Am Weltenentwurf gefällt mir insbesondere der Ansatz, für jede Kultur von einem irdischen Vorbild auszugehen, das dann durch Hinzufügen von Fantasy-Elementen und anderen Modifikationen zu einer Kultur der Spielwelt wird. Auf diese Art und Weise ist eine gewisse Mindestglaubwürdigkeit sichergestellt, die Spieler haben auch ohne Beschreibung aller Details schonmal eine Grundvorstellung, und schlußendlich kann der Spielleiter Lücken im Quellenmaterial leicht durch Rückgriff auf die irdische Vorbildkultur konsistent schließen. Als Nebeneffekt ergeben sich manchmal sogar reizvolle Alternativweltenszenarien. (Was wäre, wenn nicht der Islam die persische Welt, sondern der Zoroastrismus die arabische Welt missioniert hätte?) Die Fantasy-Elemente sind des öfteren aus der einschlägigen Literatur inspiriert (bis hin zu Lovecraft-Elementen bei der Dunklen Dreiheit), so daß Midgard zur Multi-Genre-Welt wird, mit der man allerlei Bedürfnisse befriedigen kann, ohne Welt oder System zu wechseln.

Mit der Verfügbarkeit von Quellenmaterial wurde die ursprünglich sehr strikte (und meiner Meinung nach begrüßenswerte) Trennung von Regelwerk und Quellenmaterial aufgeweicht. Ein strikt "weltneutrales" Regelwerk kommt allerdings auch sehr trocken daher, und manche Charakterklassen lassen sich darin nicht wirklich abbilden. Ein Beispiel für die "weltneutrale" Tradition Midgards sind die generischen Charakterklassen für Priester ("Priester Krieg" etc.) und die abstrakten Spruchbeschreibungen und -benennungen (keine Beschreibung des Rituals, keine "Zauberformel", keine Hinweise, was "magietechnisch" eigentlich passiert). "Moderne" Zusätze sehen da ganz anders aus. Der in der 3. Auflage eingeführte Beschwörer ging mit einer recht detaillierten Beschreibung des Multiversums einher, die so nicht mehr mit beliebigen Fantasywelten kompatibel ist. In der 4. Auflage wurde dieser Ansatz noch verfeinert. Mit Meister der Sphären ist sogar erstmals ein Teil des Regelwerkes explizit mit Quellenmaterial in einem Band kombiniert worden (wenn auch innerhalb des Bandes deutlich voneinander getrennt). Ursprung und Funktionsweise der Magie wurde in der 4. Auflage recht spezifisch erklärt. Auch gibt es jetzt ein sehr umfangreiches Bestiarium, das in weiten Teilen weitaus weltenspezifischer ist als das recht generische "Minibestiarium" der 3. Auflage. Man kann Midgard immer noch als generisches Fantasy-Rollenspielsystem benutzen, wenn man all die Bezüge zur Welt Midgard einfach ignoriert. In der Praxis ist dabei bedauerlich, daß das traditionell schlanke (aber dennoch reichhaltige und komplexe) Midgard-Regelwerk durch die Bezüge zum Hintergrund (die beim Einsatz als generisches System nur störend wirken) von "zwei überschaubaren Bänden" (2. Auflage) bzw. "sechs dünnen Heftchen" (3. Auflage) auf enzyklopädische Ausmaße "aufgebläht" wurde (fünf Bände in der 4. Auflage, die es auf 12 Regalzentimeter bringen).

Spielt man tatsächlich auf der Welt Midgard, bereichert der Bezug zum Hintergrund das Spiel natürlich, und "glücklicherweise" spiele ich schon seit längerem Midgard fast nur noch auf Midgard. (Ursächliche Zusammenhänge zur Entwicklung von Midgard - ob nun das System oder die Welt - können weder bestätigt noch dementiert werden...)

Wie schon gesagt, mag ich das Spielen auf selbsterfundenen Welten sehr, aber wenn ich mich nun mal entschieden habe, auf einer vorgefertigten Welt zu spielen, dann nehme ich das Quellenmaterial für voll und ändere es nicht leichtfertig ab, ganz ähnlich zur Herangehensweise beim Regelwerk (s.o.). Wie bei der Mischung verschiedener Herangehensweisen beim Regelwerk sehe ich auch hier bei einem Mischansatz die Gefahr, daß man sich leicht die Nachteile beider Ansätze einhandelt, statt die Vorteile zu vereinigen.

Quellenmaterial muß gewisse Qualitätsstandards erfüllen (wie Konsistenz, Originalität, Spielbarkeit). Tut es das, hat es auch verdient, für voll genommen zu werden. Leichtfertige Änderungen können die Vorteile gefährden, die man sich durch die Benutzung des Quellenmaterials erhofft hat.

Lazy evaluation.

Bei selbstgebauten Welten verfolge ich einen lazy evaluation-Ansatz, d.h. nichts ist wirklich festgelegt außer das, was die Spielercharaktere erlebt haben. Oder anders gesagt: Die Welt ist festgelegt durch die Erfahrungen der Spielercharaktere (wobei Informationen, an die die Spielercharaktere gelangen, natürlich nicht der "Wahrheit" entsprechen müssen und - wenn es denn unbedingt nötig ist, etwas umzuschreiben - extreme Mittel Anwendung finden können wie Wahrnehmungsverzerrungen oder gar der alte "Es war alles nur ein Traum!"-Trick). Bei einer vorgefertigten Welt verfahre ich ähnlich, allerdings kommt nun hinzu, daß ein gehöriger Teil der Welt "verdeckt" bereits durch das Quellenmaterial festgelegt wurde. Eine vorgefertigte Welt mit ihren vielen mitwirkenden Autoren bietet so viel Quellenmaterial, daß der Spielleiter nicht in der Lage ist, eine vollständige Kenntnis der Welt zu erlangen (was erst recht gilt, wenn die Welt aktiv weiterentwickelt wird und in Zukunft weiteres Quellenmaterial veröffentlicht werden wird). Abweichungen der Welt, wie sie durch die Erfahrung der Spielercharaktere beschrieben wird, von der Welt, wie sie das Quellenmaterial beschreibt, sind unvermeidbar. Für mich hat dabei ganz klar die Erfahrung der Spielercharaktere Priorität. Werden die Abweichungen nun zu groß, muß der Spielleiter viel Aufwand investieren, das Quellenmaterial (bzw. auch vorgefertigte Szenarien, s.u.) so anzupassen, daß es mit der "wahren" Welt (also wie sie die Spielercharaktere erfahren haben) konsistent bleibt. Der Vorteil der Zeitersparnis verkleinert sich also, während gleichzeitig man sich weiterhin mit dem "Ballast" des Quellenmaterials abgeben muß, das ja auch letztendlich dazu führt, daß man weiterhin nicht die volle Gestaltungsfreiheit hat, die eine selbstgebaute Welt böte. Hier hat man dann das oben beschriebene Problem, sich alle Nachteile eingebrockt zu haben, aber der wesentlichen Vorteile verlustig gegangen zu sein. (Hier sei gesagt, daß man Quellenmaterial natürlich auch einfach als Inspiration und Sammlung von Ideen betrachten kann. Ich persönlich habe allerdings selten einen Mangel an Ideen. Das Problem ist eher der Zeitaufwand, den es erfordern würde, Ideen konsistent und detailliert aufzuarbeiten, so daß sie spielgeeignet in die bereits bestehende Spielwelt eingefügt werden können.)

Was bedeutet dies nun in der Praxis? Ich versuche grundsätzlich, mit dem und nicht gegen das Quellenmaterial zu arbeiten. Bewußt läßt Quellenmaterial ja auch Raum für eigene Gestaltung. Ich versuche, diese zu nutzen, und nicht in Bereiche vorzustoßen, wo ich mit ziemlicher Sicherheit Inkonsistenzen mit dem Quellenmaterial erzeugen werde. Daß ich dann nicht alle meine Vorstellungen und Ideen komplett umsetzen kann, ist ein Preis, den ich zu zahlen bereit bin. Natürlich wird es in der Praxis immer Abweichungen von der "reinen Lehre" geben. Sollten aber zu große Abweichungen nötig sein und man sich in der Situation wiederfinden, wo das Quellenmaterial mehr ein Hindernis als eine Hilfe ist, würde ich die Konsequenzen ziehen und lieber gleich eine Kampagne in einer selbstgebauten Welt spielen.

Das Prinzip der lazy evaluation ist ein sinnvoller Ansatz zum konsistenten Weltenbau. Mit vorgefertigtem Quellenmaterial gibt es aber gewisse Konsistenzprobleme. Auch hier hilft es, verwendetes Quellenmaterial für voll zu nehmen.

Szenarien und Kampagnen

Komplexe Szenarien.

Ich bin ein Freund komplexer Szenarien. Es dürfen gerne viele Ebenen, Querbezüge, Handlungsstränge und Charaktere sein. Knifflige Kriminalfälle oder Mysterien immer willkommen. Lieber eine komplizierte Konfliktlage zwischen den Parteien und moralische Dilemmata als ein klares Gut-Böse-Schema. Es sollte aber ein Art großes Ganzes geben, in das alles sich einfügt (oder zumindestens vieles - ein bißchen Ablenkung muß sein - "...but the mouth organ was only ever a mouth-organ"). "Sinnlose" Komplexität ist frustrierend, genauso wie willkürlich eingebaute Rätsel um der Rätsel willen. Es darf auch Pathos und Herzblut dabeisein. Am Ende hätte ich gerne "ganz großes Kino", sozusagen 3D-Breitformat mit Sorroundsound, aber bitte mit künstlerischem Anspruch und handwerklich sorgfältiger Ausarbeitung im Detail.

Vielleicht sind es diese Vorlieben, die mich moderne innovative Rollenspielansätze, bei denen die Spieler während des Spiels das Szenario mitgestalten bzw. erst so richtig erschaffen, mit Vorsicht genießen lassen. Es ist ein bißchen wie das Improvisieren in der Musik: Es macht Spaß, hört sich vielleicht gut an und liefert mitunter sehr interessante Ergebnisse, aber eine fünfstimmige Bach-Fuge fällt dabei nicht vom Himmel.

Ich bevorzuge komplexe und (narrativ) anspruchsvolle Szenarien.

Ausgeprägtes Kampagnenspiel.

Ich bin ein großer Fan von ausgeprägtem Kampagnenspiel. Sowohl als Spieler wie als Spielleiter genieße ich es, eine Abenteurergruppe durch einen längeren Abschnitt ihres Abenteurerlebens zu begleiten. Dazu bedarf es einer personellen Kontinuität bei den Mitspielern (dazu später noch mehr) und einer Bereitschaft, inhaltliche Zusammenhänge zu erfassen, auch wenn sie sich über viele Sitzungen erstrecken (siehe dazu den Abschnitt zum Kampagnenwiki weiter unten).

Für eine gute Kampagne reicht es nicht, die gespielten Szenarien einfach nur hintereinanderzuklatschen. Es sind zahlreiche Querbezüge und das Zusammenfügen zu einem großen Ganzen, die (u.a.) den Reiz ausmachen.

Nebenbei halte ich es in einer Kampagne für sehr wichtig, den Spielerfiguren einen wirklich guten Grund zu geben, als Gruppe zusammenzuarbeiten und zusammenzubleiben (außer dem, daß sie in der Realwelt von derselben Gruppe von Rollenspielern gespielt werden).

Ein wesentlicher Reiz des Rollenspiels sind für mich lange Kampagnen mit Kontinuität bei den Spielern und dem Sinn fürs große Ganze.

Selbsterdachte vs. vorgefertigte Szenarien.

Sowohl meine Vorlieben bei Szenarien als auch meine Ansprüche an das Kampagnenspiel lassen sich am besten mit selbsterdachten Szenarien realisieren, die auch noch den Vorteil bieten, daß der Spielleiter "sein" Szenario wirklich gut kennt und ideal für die Begebenheiten in der Spielergruppe maßschneidern kann. Prinzipiell entspricht das Spielen selbsterdachter Szenarien meiner Idealvorstellung. Auch mangelt es mir in der Regel nicht an Ideen. Allerdings ist es (ähnlich wie beim Quellenmaterial) ein zeitliches Problem, Ideen so detailliert und konsistent auszuarbeiten, daß daraus ein spielbares Szenario wird. In der Praxis führt das dazu, daß ich dann doch häufiger vorgefertigte Szenarien leite als selbsterdachte. Natürlich suche ich mir dafür wirklich gut geschriebene Szenarien aus, so daß man vom Geschick eines herausragenden Szenarioautoren profitieren kann und dann unterm Strich vielleicht sogar ein Mehrwert für das Spielerlebnis herauskommt.

Ähnlich wie beim Quellenmaterial verwende ich aus praktischen Gründen häufig vorgefertigte Szenarien eines gewissen qualitativen Mindeststandards, obwohl selbsterdachte Szenarien grundsätzlich mehr Vorteile bieten.

Kampagnenwiki.

In jeder Sitzung gibt es einen "Chronisten", der zeitnah einen Sitzungsbericht im Kampagnenwiki schreibt. Solch ein Bericht kann sehr kurz und knapp ausfallen, notfalls in Stichpunkten, solange die für die Fortführung der Kampagne wichtigen Informationen enthalten sind. (Natürlich darf auch romanartig ausformuliert werden. Das liest sich schöner, aber wichtiger ist, daß der Bericht so schnell wie möglich niedergeschrieben wird, bevor die Erinnerung verblaßt.) Die Form des Wikis wurde gewählt, weil das allen Spielern (und auch dem Spielleiter) ermöglicht, die Berichte zu ergänzen und zu diskutieren. Sinn und Zweck dieser Berichte ist der folgende:

  • Jeder Spieler liest sich vor einer Sitzung den letzten Bericht durch, um den Stand der Dinge vor Augen zu haben und nahtlos wieder in die Handlung eintauchen kann. Eine zeitraubende "Stundenwiederholung" zu Beginn der Sitzung fällt weg, es kann sofort losgehen.
  • Eine gute Kampagne besteht, wie oben ausgeführt, nicht nur aus einem Haufen notdürftig zusammengeklatschter Szenarien, sondern hat zahlreiche Rück- und Querbezüge. Der "Blick ins Tagebuch" ermöglicht es, diese Referenzen zu erkennen und sich an ihnen zu erfreuen.
  • Der Spielleiter sieht, was bei den Spielern eigentlich angekommen und hängengeblieben ist. Fehlt eine wichtige Information oder ist es zu unerwünschten Mißverständnissen gekommen, hat er nun die Möglichkeit, durch Editieren des Wikis bzw. durch späteres Einflechten mehr oder weniger subtiler Hinweise den Informationsmangel zu beheben.

Ob die Aufgabe des "Chronisten" von Sitzung zu Sitzung wechselt oder ob sich ein Spieler auf diese Aufgabe spezialisiert, ist an sich egal, solange sich die Spieler hier einig sind. Der Spielleiter kommt für die Chronistenrolle aus verschiedenen Gründen nicht in Frage und wird nur auf die beschriebene Art und Weise korrigierend eingreifen. Es ist wünschenswert, wenn sich möglichst viele Spieler an der Ergänzung und Diskussion des Berichts beteiligen. (Manchmal kommen den Spielern dann auch Einsichten, für die sie im laufenden Spiel betriebsblind waren.) Absolut essentiell ist es aber, daß der Spieler, der als "Chronist" fungiert, den Bericht innerhalb weniger Tage nach der Sitzung, zumindestens in Stichworten bzw. in Rohform, ins Wiki einstellt.

In meinen Runden ist das Führen eines "Kampagnentagebuchs" Pflicht.

Organisatorisches

Spielerzahl.

Ich bin ein Freund kleiner Spielerzahlen. Fast alle Probleme, die eine Rollenspielgruppe haben kann (Inkompatibilitäten zwischen den Spielern bzw. deren Vorstellungen, Mangel an Konzentration oder Intensität des Erlebens, Terminfindung, ...), verschlimmern sich mit größerer Spielerzahl. Natürlich gibt es auch Vorteile größerer Gruppen. So steigert sich die Kampfstärke der Gruppe, so daß man mächtigere Gegner in epischeren Konflikten bekämpfen kann, ohne Hilfe von Nichtspielerfiguren zu benötigen. Auch gibt es vielfältigere Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Spielerfiguren, was ja durchaus eines der Dinge ist, die Rollenspiel interessant machen. Den sweet spot sehe ich bei drei Spielern (plus Spielleiter). Vier bzw. zwei Mitspieler geht im Notfall auch und sehe ich als etwa gleich gut an. Fünf und mehr Spieler würde ich nur episodenweise zulassen (z.B. ein Gastspieler für eine Sitzung).

Bei der Spielerzahl ist häufig weniger mehr. Ich bevorzuge Runden mit ca. drei Spielern (plus Spielleiter).

Organisation der Sitzungstermine.

Ob man sich nun häufiger für kürzere Termine trifft oder seltener für längere Termine, ob man einen Jour fixe findet oder sich den jeweils nächsten Termin ad hoc sucht, ist mir eigentlich egal, solange eine gewisse "Mindestspielzeit pro Monat" zusammenkommt. Alle drei Monate für vier Stunden zu spielen wäre z.B. für meinen Geschmack viel zu wenig. Beispiele für akzeptable Modi:

  • Ein regelmäßiger wöchentlicher Termin mit 3-4h Spielzeit ("jeden Donnerstag um 20h").
  • Unregelmäßig, aber nicht seltener als einmal im Monat eine ausgiebige Ganztagssitzung (mit gemeinsamen Mittagessen zwischendrin und so).

Als sinnvolle Untergrenze für einen akzeptablen Handlungsfortschritt in einer Kampagne sehe ich eine monatliche Nettospielzeit von acht bis zehn Stunden.

Kontinuität bei der Mitspielerzusammensetzung ist mir sehr wichtig (u.a. wegen des ausgeprägten Kampagnenspiels, s.o.). Ein Modus, der von vorneherein darauf ausgelegt ist, daß regelmäßig ein oder zwei Spieler nicht dabeisein werden, geht gar nicht. Ein Termin, bei dem rechtzeitig vorher feststeht, daß ein Spieler nicht kann, wird abgesagt. Sollte ein Spieler kurzfristig absagen müssen (sprich: die anderen Spieler sind bereits versammelt oder auf dem Weg), wird zähneknirschend eben doch gespielt. Sobald aber zwei Spieler fehlen, wird auf keinen Fall gespielt. Für die versammelte Mannschaft gibt es dann ggf. ein Alternativprogramm (Brettspiel mit passender Thematik, Kurzabenteuer mit vorgefertigten Charakteren oder auch einfach nur Kaffeeklatsch unter Freunden).

Es versteht sich, daß dies alles nur funktioniert, wenn alle Beteiligten den Sitzungsterminen eine relativ hohe Priorität in ihrer Terminplanung einräumen und so gut organisiert sind, daß das Absagen eines einmal vereinbarten Termins ein Ausnahmefall bleibt.

Zu Beginn einer Kamapgne gibt es einen generellen Termincheck von prinzipiell möglichen Zeitschlitzen. Sollte sich herausstellen, daß Spieler A grundsätzlich nur Montag und Mittwoch kann, Spieler B aber nur Dienstag und Donnerstag, dann fängt man die Kampagne in dieser Zusammensetzung besser gar nicht erst an.

Ich strebe an, an einer Kampagne regelmäßig ca. 10h im Monat mit fester Spielerkonstellation zu spielen.

Tod von Spielercharakteren

Am Ende dieser Ausführungen steht der Tod...

Wäre das Rollenspiel "realistisch", würden Spielercharaktere so häufig den Tod finden, daß dies dem Spielspaß doch recht abträglich wäre. Andererseits wäre es ebenso reizlos, wenn die Spieler sicher sein könnten, daß ihre Figuren nicht sterben können, komme was wolle. Eine gewisse Menge "fantastischen Realismus" gehört dazu.

Gerade Midgard betont (z.B. mit der Trennung von AP und LP und mit den Auswirkungen von kritischen Treffern) die Sterblichkeit auch hochgradiger Charaktere (und schränkt gleichzeitig jede Art von Wiederbelebung sehr stark ein - das so oft karrikierte "Rezzen" im D&D-Stil beim Tempel um die Ecke gibt es bei Midgard so nicht). Im Rollenspiel gilt es also, die für den Spielspaß optimale Balance zu finden. Ein Beispiel für eine "unrealistische" Manipulation, die in fast jedem Rollenspiel vorkommt, ist, daß der Spielleiter seine Spieler normalerweise in Abenteuer schickt, deren Schwierigkeitsgrad ihren Figuren gerade angemessen ist. Zu leichte Abenteuer wären langweilig, zu schwere frustrierend.

Über solche "selbstverständlichen" Manipulationen hinausgehend, ist für mich die "goldene Regel", daß eine Situation, die mit einer relevanten Gefahr des vorzeitigen Ablebens verbunden ist, sowohl als solche erkennbar als auch vermeidbar sein soll. Das Erkennen muß (und sollte) durchaus nicht trivial sein, und das Vermeiden nicht ohne Nachteile, aber eine Spielerfigur sollte - salopp gesagt - ihren Tod auf irgend eine Art und Weise "verdient" haben, sei es durch Dummheit oder durch bewußtes "heldenhaftes" Eingehen eines Risikos. Als ebenso abschreckendes wie sprichwörtliches Negativbeispiel sei das legendäre Szenario Tomb of Horrors genannt (wo die Vermeidungsstrategie wohl lediglich darin besteht, daß Szenario gar nicht erst anzufangen).

In narrativistischen regelarmen Systemen ist es meist unproblematisch, meine "goldene Regel" umzusetzen. Bei simulationsorientierten fortune-basierten Systemen hat man das Problem, daß das Eigenleben der Regeln zum Ableben von Charakteren zur Unzeit führen kann, was sich dann faktisch nur noch durch Regelbruch per Spielleiterdekret aufheben läßt. Manche Systeme, so auch Midgard seit der 4. Auflage, bieten mit einer Art "Schicksalspunkten" (bei Midgard Schicksalsgunst genannt) eine elegante Möglichkeit, das (möglicherweise tödliche) "Verwürfeln" gerade bei hochgradigen Spielerfiguren zu vermeiden. Wenn man so will, könnte man sagen, daß hier ein gamistischer Mechanismus (Erringen und Ausgeben von Punkten) benutzt wird, um den narrativistischen Aspekt des "Besonderen" der "Helden" simulationistisch zu modellieren. (Ja, ich weiß, den wahren Rolenspieltheoretikern rollt es jetzt die Fußnägel hoch... ;-)

Nebenbei bemerkt: Interessanterweise hat auch Remiros mit den Schicksalschips ein ähnliches Instrument, das ich mir parallel zu und in Unwissen von der Midgard-schen Schicksalsgunst ausgedacht hatte. Da Remiros narrativistisch und drama-basiert ist, braucht man die Schicksalschips nicht wirklich zum puren Überleben. Welchen Effekt der Einsatz von Schicksalschips narrativistisch hat, kann man gut nachvollziehen, wenn man das Kapitel Felix Felicis in Harry Potter und der Halbblutprinz liest. (Ups, das war jetzt schon die zweite Harry-Potter-Referenz. Ich sollte mir wohl langsam Gedanken machen...)

Unsere Midgard-Hausregeln sind in Teilen davon geleitet, Situationen, die nach wenigen, von den Spielern nicht zu beeinflussenden bzw. zu vermeidenden Würfelwürfen zum Tode führen (z.B. Scharfschießen aus dem Hinterhalt), so abzumildern, daß lediglich Kampfunfähigkeit eintritt.

Meine "goldene Regel" hat dazu geführt, daß in von mir geleiteten Midgard-Gruppen eigentlich nie eine Spielerfigur gestorben ist, ohne daß ihr Spieler das recht bewußt riskiert oder gar in irgendeiner Form "gewollt" hat. (Wenn ein Spieler ohnehin eine neue Figur spielen will und sich gerade die Gelegenheit für einen wahren Heldentod bietet - warum nicht? Wir hatten auch schon einen Fall eines narrativistisch äußerst effektvollen dramatischen Todes in tragischer geistiger Umnachtung... Das kann ganz großes Kino sein.) Dies gilt sogar für die Zeit vor Einführung der Schicksalsgunst. Es sei betont, daß ich zwar als Spielleiter im Dienste des Plots durchaus ausnahmsweise "Fake-Würfe" durchführe (also hinter dem Schirm würfele, obwohl der Plot das Ergebnis diktiert), aber keinesfalls "aus Mitleid" willkürlich Würfe im Kampf abändere. Wenn der Gegner die sprichwörtliche 20/100 würfelt (0,05% Wahrscheinlichkeit!), dann ist das eben so, und der Spielercharakter stirbt. Wer sich auf Kämpfe einläßt, ist sich des Risikos offensichtlich bewußt. Das ist also kein Verstoß gegen die "goldene Regel" (und mittlerweile ermöglicht die Schicksalsgunst diesbezüglich auch noch ein paar Freischüsse). Offenbar ist meinen Spielern auch bewußt, daß die Gefahr des Sterbens besteht, denn Kämpfe werden in der Regel so weit wie möglich vermieden.

Ich bin kein Freund des "Verheizens" von Spielercharakteren. Die Möglichkeit des Todes gehört dazu, aber der Tod sollte eine Konsequenz der Entscheidungen eines Spielercharakters sein und nicht "einfach so" über ihn kommen.